Hans Freudenthal

Hans Freudenthal

Am 17. September 1905 wird er in Luckenwalde geboren. Sein Interesse gilt neben der Mathematik ebenso der Geschichte und der Literatur. Am 22. Februar 1923 beendet er erfolgreich seine Abiturausbildung am Friedrich-Gymnasium von Luckenwalde. Im selben Jahr beginnt er Mathematik und die Nebenfächer Physik und Philosophie in Berlin zu studieren. 1930 promoviert er mit einem topologischen Thema.

Nach Abschluss seiner Dissertation geht Freudenthal nach Amsterdam und wird Assistent von Brouwer, den er 1927 bei einem Gastvortrag in Berlin kennen lernte. Brouwer ist ein Vertreter des Intuitionismus und beeinflusst Freudenthal. Ebenso tut dies Karl Löwner, der in Berlin als Hauptvertreter dieser Richtung gilt. Diese Prägung wirkte sich sicherlich auf Freudenthals spätere mathematikdidaktische Konzeption aus. Ein Jahr später (!) - 1931 - habilitiert er sich mit einer Schrift zum Thema "Qualität und Quantität in der Mathematik".

Von 1943 bis Mitte 1944 ist er im Arbeitslager in Havelte interniert, aber mit Hilfe seiner holländischen Frau gelingt ihm die Flucht. Nach Kriegsende setzt Freudenthal zunächst seine fachwissenschaftlichen Arbeiten fort. Erst nach und nach entwickelt sich sein didaktisches Interesse, das zunächst der Hochschuldidaktik und erst später dem Mathematikunterricht an den Schulen gilt. In den 70er Jahren konkretisiert Freudenthal seine Konzeption vom Mathematik lernen und initiiert im Jahr 1971 die Gründung des IOWO - das Institut zur Entwicklung des Mathematikunterrichts. Die Aufgabe des IOWO ist die "Unterrichtsentwicklung in der, durch die und für die Schulpraxis".

Die Arbeit folgt dem Prinzip der Integration dahingehend, dass alle Altersstufen, Schule, Ausbildung und Fortbildung sowie verschiedene Fächer einbezogen werden. Ziel ist dabei nicht eine abgeschlossene, systematische Curriculumskonzeption, sondern die Ausarbeitung unterschiedlicher Themenkomplexe, die untereinander in einer Art Beziehungsnetz verbunden werden. In diesen spiegeln sich die zentralen Ideen wieder - sozusagen als eine Art Grundpfeiler einer Konzeption -, die von verschiedenen Seiten immer wieder beleuchtet werden, wie beispielsweise die Sichtweise von Mathematik als Tätigkeit, der Realitätsbezug, das Mathematisieren, der gestufte Lernprozess und das Prinzip der Nacherfindung unter Führung. Besonders kennzeichnend für das IOWO und somit für die Arbeit von Hans Freudenthal ist der Praxisbezug.

Am Ende des Jahres 1980 wird das IOWO aufgelöst. Seit diesem Zeitpunkt arbeitete es in Form einer kleinen Arbeitsgruppe der Universität Utrecht unter dem Namen OW & OC weiter. Geprägt von Freudenthals mathematikdidaktischem Ansatz, der eine Synthese von Wissenschafts- und Praxisorientierung darstellt, gewinnt die Arbeitsgruppe im Laufe der 80er-Jahre weltweit an Bedeutung und gehört heute zu den angesehensten Einrichtungen mathematikdidaktischer Forschung und Beratung. Seine Geburtsstadt Luckenwalde verleiht ihm im September 1990 die Ehrenbürgerschaft. Hans Freudenthal stirbt am 13. Oktober 1990. Knapp ein Jahr später wird das OW & OC in Freudenthal-Institut umbenannt." (Quelle: Aus dem Begleitheft zum Gastvortrag der Reihe Luckenwalder Stadtgeschichte(n) "Hans Freudenthal")

Lebensdaten

  • 1905 Geboren am 17.09. in Luckenwalde als Sohn einer jüdischen Familie
  • 1916 - 1923 Schulbesuch des Friedrich-Gymnasiums in Luckenwalde mit erfolgreicher Abiturausbildung
  • 1923 - 1930 Mathematikstudium in Berlin, Nebenfächer: Physik und Philosophie
  • 1927/1928 Bekam er den Auftrag, einen Volesungsskript zur kombinatorischen Topologie auszuarbeiten. Er war als Assistent an der Edition der Jahrbücher über die Fortschritte der Mathematik beteiligt und war somit voll in die wissenschaftliche Forschung eingebunden.
  • 1930 Promotion zum Doktor der Philosophie an der Universität Berlin, Emigration in die Niederlande
  • 1930 - 1941 und 1945 - 1946 Privatdozent an der Universität Amsterdam (während der deutschen Besatzung suspendiert)
  • 30er Jahre Verfolgte die Idee, alle homoligschen Gedanken neu zu definieren und zwar in einer topologisch invarianten Art und Weise die Topologie genannt wurde. Hochzeit mit der niederländischen Germanistin und Pädagogin Susan Lutter
  • 1934 Er fand eine weltweit anerkannte Lösung über Abbildungen auf Homotopierklassen. 1935 Vortrag eines Gegenstandsberichts auf der 1. internationalen Konferenz über topologie in Moskau, der später als direkte und inverse Grenzen von topologischen Objekten bezeichnet wurde.
  • 1943 - 1944 Arbeitslager Havelte
  • 1945 - 1946 Konservator am Mathematischen Institut der Universität Amsterdam
  • 1946 - 1976 Dozent für reine angewandte Mathematik und für die Grundlagen der Mathematik an der Reichsuniversität Utrecht/Niederlande
  • 1971 - 1976 Direktor des Instituts für die Entwicklung des Mathematikunterrichts (IOWO)
  • 1990 im September wird er Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Luckenwalde
  • 1990 gestorben am 13.10. in Utrecht/Niederlande

Auszeichnungen

Ritter vom Orden des Niederländischen Löwen

Mitglied der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften

  • 1961 Ehrendoktor der Universität Berlin
  • 1973 Ehrendoktor der Universität Erlangen
  • 1974 Ehrendoktor der Universität Brüssel
  • 1974 Ehrendoktor der Universität Toronto
  • 1977 Ehrendoktor der Universität Amsterdam
  • 1984 Goldene Gänsefeder des Königlich Niederländischen Verlegerbundes (KNUB) Mitglied der Internationalen Akademie der Philosophie der Wissenschaften Ehrenmitglied der Mathematischen Gesellschaft Ehrenmitglied der Hamburger Mathematischen Gesellschaft
  • 1987 Advisory Professor an der East China Normal University Shanghai China Ehrenmitglied des Niderländischen Vereins für Logik und Philosophie der Wissenschaft

Zum 100. Geburtstag des Ehrenbürgers der Stadt Luckenwalde am 17. September 2005

"Durch Bildung zur Freiheit. Ihr seid das Saatkorn einer neuen Zeit"
Nach diesem Motto lebte und handelte der Mathematiker und Ehrenbürger der Stadt Luckenwalde.

Am 13. September 1990 beschloss die Stadtverordnetenversammlung einstimmig, auf Vorschlag der Fraktion Neues Forum/Volkssolidarität, Herrn Professor Doktor Hans Freudenthal aus Anlass seines 85. Geburtstages die Ehrenbürgerschaft der Stadt Luckenwalde zu verleihen.

Die Stadt Luckenwalde würdigte den 100. Geburtstag ihres Ehrenbürgers mit der feierlichen Enthüllung einer Gedenktafel an seinem Geburtshaus, Puschkinstraße 38 (ehemalige Synagoge) am 09. November 2005 im Beisein von Enkel Bastiaan van der Velden, der ehemaligen Schülerin Freudenthals Professor Doktor Christine Keitel und Tochter Mirjam van der Velden-Freudenthal (v.l.).
Die Bürgermeisterin, Frau Elisabeth Herzog-von der Heide, zeigte am Geburtshaus von Hans Freudenthal seinen Lebensweg auf und würdigte seine wissenschaftliche Reputation, seine Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit sowie Menschlichkeit.

"Es gibt ein Konfuzius zugeschriebenes Zitat, das lautet: "Sag es mir, und ich vergesse es; Zeige es mir, und ich erinnere mich; Lass es mich tun, und ich behalte es." Nach meinem Verständnis müsste die Freudenthal´sche Ergänzung lauten: "Lass es mich entdecken und ich verstehe es." Denn "es ist ein Fehler, den Schülern etwas zu verraten, auf das sie von selbst draufkommen können", so Hans Freudenthal.
Diese Sätze können sicherlich nicht mehr als eine Vulgärfassung seiner Lehre sein, die tatsächlich in enger Verknüpfung von Wissenschaft und Praxisorientierung von Utrecht aus Vorbild für die Innovation des Mathematikunterrichts u.a. in Japan, USA und China wurde.

Orden und zahlreiche Ehrendoktorwürden von Universitäten aus vielen Ländern dokumentieren seine wissenschaftliche Reputation.
Ich muss ehrlich gestehen, dass ich zwar wusste, dass Luckenwalde einen Ehrenbürger namens Freudenthal hat. Wie vielschichtig und vielseitig diese Persönlichkeit jedoch war und wie sie gewirkt hat, ist mir erst aufgegangen, als Herr Riemer und ich das Freudenthal-Institut zur Feier anlässlich des 100. Geburtstags seines Namensgebers am 17. September diesen Jahres besuchten. Es eröffneten sich die Facetten eines Weltbürgers, eines Kolumnisten, eines Literaten, eines Linguisten, der eine kosmische Sprache entwickelt hat, eines Mathematikers, eines Pädagogen, eines Schöngeists, eines Streiters und Spötters, eines geschätzten Kollegen und Mentors und eines geliebten Menschen.

Und ich freue mich darüber, dass wir heute die Erinnerung an unseren Ehrenbürger mit der von Manfred Stenzel geschaffenen Tafel nachhaltig für jedermann sichtbar im Stadtbild wach halten. Das genaue Hinsehen lohnt, da sie ein Kunstwerk an sich ist.
Die Freude lässt sich noch dadurch steigern, dass Angehörige unseres Ehrenbürgers, die Familie van der Velden-Freudenthal und Weggefährten am heutigen Tag zu uns gereist sind und sie sich dazu bereit gefunden haben, uns hier in Luckenwalde mit ihrem Vater, Großvater, Kollegen und Chronisten der jüdischen Gemeinde näher bekannt zu machen."

Von diesem Ort aus und an diesem Datum erinnerte die Bürgermeisterin an die Ereignisse des 09. November 1938. Unwiderruflich verschwanden Leistungsträger der wirtschaftlichen Entwicklung und Mitbürger aus dem Gemeinwesen der Stadt Luckenwalde. Neben Zivilcourage gab es Bespitzelung und Denunziation, Dulder und Weggucker, also die ganze Bandbreite menschlichen Verhaltens auch hier.

"Es ist richtig und wichtig, sich die ganze Bandbreite menschlichen Verhaltens vor Augen zu führen. Es ist richtig, sich - ohne überhebliche Selbstgerechtigkeit - über Täter und ihre Untaten zu entrüsten und sich von der Zivilcourage derjenigen beeindrucken zu lassen, die sich widersetzt haben. Es ist auch richtig, erleichtert darüber zu sein, dass wir in Verhältnissen leben können, die ein solches systematisches Unrecht und Menschen verachtendes Verheizen von Individuen nicht zulassen. Und es ist wichtig, seinen Teil dazu zu leisten, das dies so bleibt.

Dazu können unsere heutigen Veranstaltungen, die die Erinnerung an Bürger und Ereignisse in unserer Stadt wach halten, beitragen."
Nach der Einweihung der Gedenktafel wurde durch Pfarrer Detlef Riemer in der St. Johanniskirche traditionell an die Judenverfolgung im Dritten Reich erinnert.

In der Kirche waren auf Fahnen die mehr als 80 Namen der Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung von 1933 - 1945 erinnert.
Hans Freudenthal hat mit seinem Insiderwissen zur Beschreibung der Luckenwalder jüdischen Gemeinde beigetragen. 21 Namen von Opfern wurden durch ihn dem Vergessen entrissen, Gesichter und Geschichten wurden lebendig. Pfarrer Riemer rief diese 21 Namen ins Gedächtnis, denn erinnern heißt leben.

Mitglieder der Jungen Gemeinde wandten sich anschließend gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit.

Herr Werner Goldstein, Teilnehmer am letzten Gottesdienst der jüdischen Gemeinde am 04. November 1938, wenige Tage vor der Pogromnacht, erinnert an seine Erfahrungen mit Luckenwalde. Ostern 1935 kam er aus Berlin nach Luckenwalde, um hier eine Lehre als Werkzeugmacher aufzunehmen. Jüdische Namen wurden von den Luckenwaldern noch mit Respekt und Wärme ausgesprochen, hatten doch viele jüdische Deutsche zum Aufschwung Luckenwaldes beigetragen. Er dankte der evangelischen Kirchengemeinde für das Engagement des Erinnerns und der Stadt für die Würdigung, damit würdigen die Bürger auch sich selbst (frei nach Bert Brecht).

Er sprach die Hoffnung aus, dass die Namen der ehemaligen jüdischen Mitbürger auch einen breiteren Platz in der Öffentlichkeit finden werden.

Zum Schluss beteten die Teilnehmer gemeinsam mit Herrn Dr. Wolfgang Weißleder von der jüdischen Gemeinde das Gebet aus dem jüdischen Gebetbuch "Gedenken an die Opfer" und anschließend mit Pfarrer Riemer das evangelische "Vater Unser" als Brücke zwischen Juden, Christen und Nichtgläubigen.

Im Sitzungssaal des Rathauses gaben anschließend die Tochter Frau Mirjam van der Velden-Freudenthal und der Enkel Herr Bastiaan van der Velden im Rahmen der Reihe Stadtgeschichte(n) Einblicke in das Leben von Hans Freudenthal. Pfarrer Detlev Riemer erinnerte an die Anfänge der Bekanntschaft mit Hans Freudenthal.
Mirjam van der Velden-Freudenthal sprach über den Besuch ihres Vaters 1988 in der Synagoge, wie begeistert und lebhaft er dies aufnahm, eine nie für möglich gehaltene Heimkehr ins elterliche Haus. Sie berichtete über die Tagebücher ihres Vaters, seine zahlreichen Reisen aus wissenschaftlichen aber auch familiärem Anlass. Hans Freudenthal war ein Familienmensch. Sie schilderte anschaulich die Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit im Wesen ihres Vaters. Sie dankte der Stadt Luckenwalde für die große Ehrung als Ehrenbürger und für das ansprechende Gedenken an diesem heutigen Tag.

Luckenwalde hat durch das Wirken von Pfarrer Riemer zur Person ihres Vaters für ihn und seine Familie wieder ein Gesicht erhalten.

Sein Enkel Bastiaan van der Velden berichtete von den Spaziergängen während seiner Kindheit mit seinem Großvater. Diese verliefen sehr lehrreich und experimentell. Sie wurden von seinem Großvater wissenschaftlich im Rahmen seiner Auffassungen zur Entwicklung der Didaktik der Mathematik "ausgewertet".

Herr Professor Doktor J. R. Strooker von der Universität Utrecht schlug sehr humoristisch eine weitere Seite Luckenwalder mathematische Größe auf. Er berichtete über die versuchte Aussöhnung zweier Mathematiker und ihrer Theorien mittels der Auseinandersetzung mit dem mathematischen Meinungen von Paul Koebe.

Den Wissenschaftler, Mathematiker und ungewöhnlichen Menschen Hans Freudenthal brachte seine ehemalige Schülerin Frau Professor Doktor Christine Keitel nahe. Einen Menschen den Direktheit und Witz ebenso auszeichneten wie sein breites Wissensspektrum. Gegen Borniertheit ging er mit gradliniger Kritik vor. Gleichzeitig nahm er auch selbst gern Kritik an. Dies regte ihn zur fruchtbaren Auseinandersetzung an.

Die Bestätigung der Vielseitigkeit der freudenthalschen Persönlichkeit konnten die Besucher mittels einer Videoaufzeichnung selbst erleben, Hans Freudenthal las aus seinen Tagebüchern. Inhalt, Gestik und Mimik brachten einen gebildeten, uneitlen und humorvollen Menschen zum Vorschein und bestätigte in Wort und Bild das von allen Rednern beschriebene.

Aus der Begründung der Verleihung des Ehrenbürgertitels:
"Die Biografie des Jubilars, seine umfangreiche fruchtbare Tätigkeit und seine internationale Anerkennung als Mathematiker und Wissenschaftsphilosoph sprechen für sich und sollten uns veranlassen, ihm die Aufmerksamkeit und den Respekt entgegenzubringen, die seiner Persönlichkeit zusteht. Indem wir ihn ehren, geben wir ihm symbolisch das zurück, was der deutsche Nationalsozialismus ihm und mit ihm unzähligen Juden genommen hat und was ihm niemand anders als seine Geburtsstadt schenken kann: die Heimat. Über die Würdigung der Person hinaus kann die Verleihung eines Ehrentitels an einen Staatsbürger der Niederlande zugleich ein kleiner Beitrag für das neue europäische Haus der Zukunft sein. Und schließlich wird es auch für uns heilsam sein, wenn wir uns an Menschen und Geschehnisse erinnern, die auf verborgene Weise doch ein Stück von uns selbst bleiben."
"Die Mathematik als Fertigprodukt anwenden ist etwas, das mehr und mehr den Maschinen überlassen werden kann, und dabei werden immer neue Kräfte frei zur schöpferischen Anwendung der Mathematik. (...) Ich habe auseinander gesetzt, dass wir heute Sprache und Mathematik als Tätigkeiten sehen, in die wir den Schüler einzuführen haben, und dass diese Einführung von der Seite des Schülers her Wiederentdeckung unter Führung zu sein hat." (Freudenthal, 1963).

Seite drucken | Autor: Britta Jähner | zuletzt geändert am: 26.11.2024