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Einweihung der Gedenktafel für die Luckenwalder Widerstandsgruppe "Gemeinschaft für Frieden und Aufbau" am 4. März 2004

Bürgermeisterin Elisabeth Herzog-von der Heide hielt folgende Ansprache:

Martin Niemöller war engagiertes Mitglied der Bekennenden Kirche und als „persönlicher Gefangener“ Hitlers von 1938 bis Kriegsende in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Dachau inhaftiert. Von ihm stammen folgende Gedanken:

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich nicht protestiert, ich war ja kein Gewerkschafter.

Als sie die Juden holten, habe ich nicht protestiert, ich war ja kein Jude.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Wir gedenken heute der Menschen aus dieser Stadt,  die ein anderes Resümee für sich ziehen konnten. Denn  hier haben Menschen gelebt, die sich - ungeachtet ihrer politischen Weltanschauung und ihrer Herkunft - von gemeinsamen Werten wie Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit und enormer Zivilcourage leiten ließen. Sie setzten ihr Leben aufs Spiel, um verfolgte Menschen zu retten; aber auch, um mit riskanten Flugblattaktionen für das Ende des Krieges und den Sturz der mörderischen Diktatur zu kämpfen.

Es erfüllt mich mit Dankbarkeit und Hochachtung, dass es in dieser Stadt auch diese „Kleinen Leute“ mit ihren großen Herzen und Riesenmut gegeben hat.

Für die Stadt ist es nun höchste Zeit, sich dauerhaft an diese Menschen zu erinnern. Ich freue mich deshalb sehr, dass wir nun endlich das Versprechen einlösen können und mit dieser Gedenktafel im Bahnhofsvorplatz ab heute die bewunderungswürdige Haltung und Taten allgegenwärtig machen.

Inschrift der Gedenktafel:

‚In Memoriam

1943 und 1994 kreuzten sich am Luckenwalder Bahnhof die Wege vieler Beteiligter der Widerstandsgruppe „Gemeinschaft für Frieden und Aufbau“. Untergetauchte Juden kamen hier an, und tausende Flugblätter wurden von hier aus in andere Städte gebracht.

Hans und Frida Winkler, Werner Scharff, Fancia Grün, Fritz Arndt, Georg Brachmüller, Hilde Bromberg, Anja, Julius und Eugen Friede, Ilse und Gerhard Grün, Lucie und Paul Hitze, Gertrud und Arthur Joachim, Paul Kräge, Henry Landes, Günter Naumann, Paul Rißmann, Paul und Ida Rosin, Michael Schedlbauer, Alfred Stein, Paul Thiele.‘

Diese Lebenswege sind bis in die Gegenwart Vorbild und können jeden einzelnen darin bestärken, Tugenden wie Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit und Toleranz Wert zu schätzen, sie zu leben und den Mut aufzubringen, das, was richtig ist zu erkennen und zu tun.

Darüber, wer diese Menschen waren, was sie bewegte und wie sie agierten, werden diejenigen berichten, die das am besten können, nämlich Herr Eugen Herman-Friede als ein Mitglied und Geretteter der Widerstandsgruppe und Frau Ruth Winkler-Kühne, deren Vater ein Kopf der Widerstandsgruppe war. Ich lade Sie alle herzlich zur Nachfolgeveranstaltung ins Rathaus ein.“

Dieser Einladung folgten rund 80 Interessierte, die der offenen Runde im Rathaus aufmerksam zuhörten.

Die Luckenwalder Widerstandsgruppe entstand namentlich 1943. Doch bereits 1938 trafen sich Hans Winkler, Günter Samuel und Erich Schwarz, um jüdische Menschen vor der Deportation zu retten. Seit 1941 widmeten sich dieser Aufgabe ferner Paul Hitze, Henry Landes, Paul Rißmann und Paul Rosin. Weitere Helfer traten der Gruppe bei, die mit der Verteilung von Flugblättern zum Widerstand aufrief.

Die Besonderheit der Luckenwalder Widerstandsgruppe bestand darin, dass Juden und Nicht-Juden trotz antisemitischer Hetze zusammenhielten und -arbeiteten.

Als Motiv für den Standort der Gedenktafel am Bahnhofsvorplatz führte Historikerin Barbara Schieb aus Berlin aus - die die Gesprächsrunde moderierte -, da hier die hilfesuchenden Menschen ankamen und von dieser Stelle aus die Flugblätter in die Gegend gebracht wurden. Über die Flugblattverteilung berichtete lebhaft Ruth Winkler-Kühne (Tochter von Hans Winkler). Sie war damals zwölf Jahre alt, hatte in ihrem Kinderkoffer unter Spielzeug versteckt die Flugblätter und reiste mit ihrem Vater nach Berlin. Während der Kontrollen wurde ihr schon mulmig, es ging aber alles gut aus.

Eugen Herman-Friede kam als 17-jähriger Jude in die Winkler-Familie. Er fühlte sich in der Zwei-Zimmer-Wohnung in der heutigen Karl-Marx-Straße 6 gut aufgenommen, gar so als sei es seine Familie. Um mal auf die Straße gehen zu können, zog er eine JVA-Uniform an. Ansonsten musste er sich, wenn es bei Winklers an der Tür klingelte, im Kleiderschrank hinter einem Mantel verstecken. 

Viele Luckenwalder halfen Winkler und seiner Gruppe, sie trafen sich in seiner Wohnung, in der Schankstätte „Zur kleinen Hütte“, selbst im Stalag kamen sie zusammen.

In dem zu Beginn der Veranstaltung vorgeführten Videofilm der Realschule von 1992 zeigte Zeitzeuge Günter Naumann die Schauplätze der Widerstandsgruppe. Naumann konnte aus gesundheitlichen Gründen bei der Veranstaltung nicht dabei sein. Er selbst bezeichnete sich im Film als Benjamin dieser Gruppe. Naumann war sich aufgrund seiner Jugend der Gefahr nicht bewusst, die ihn und alle anderen während der Aktionen stets begleitete.

Ruth Winkler-Kühne dankte der Stadt Luckenwalde für die würdevolle Ehre, die ihrem Vater und den Mitgliedern der Widerstandsgruppe mit der Gedenktafel zu teil werde. Die Erinnerung an diese schlimme Zeit soll gerade in der heutigen, wo Gewalt schon unter Jugendlichen beginnt und Ausländerfeindlichkeit auf der Tagesordnung steht, wachgehalten werden.

Seite drucken | Autor: Britta Jähner | zuletzt geändert am: 24.08.2022